Bruno Lötscher ist Tierarzt und lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Brienz BE. Seit seiner Jugend haben ihn die Esel ganz besonders interessiert. Zur Zeit beleben diverse Hühner, ein Hund, vier Esel und ein Maultier die Weiden und den Stall auf der Sonnseite des Brienzersees.
Bruno hat uns gebeten, statt eines Porträts seinen Bericht „Auf den Spuren von Robert Louis Stevenson“ auf der Homepage zu veröffentlichen. Viel Vergnügen beim Lesen!
Auf den Spuren von Robert Louis Stevenson
oder mit dem Maultier durch die Wildnis Frankreichs
In einem französischen Eselheft entdeckten wir einen Beitrag über den „Stevensonweg“ in Frankreich. Ein Wanderweg, benannt nach dem englischen Schriftsteller Robert Louis Stevenson. Dieser brach am 22. Sept. 1878 auf, um zusammen mit der Eselin Modestine auf einer Reise durch die wilden Naturlandschaften des südlichen Frankreichs seinen Liebeskummer zu vergessen. Uns trieb weniger der Kummer als die Liebe zur Natur. So begannen wir bereits im Sommer, unsere zweiwöchige Reise im Herbst vorzubereiten. Wir (Bruno und Franziska) wollten zu Fuss wandern, mit einem kleinen Tagesrucksack ausgerüstet, und Djamila, unser 5-jähriges Maultier sollte unser Gepäck tragen. Alles wurde aufs Notwendigste reduziert, es sollte jedoch möglich sein, irgendwo im Wald zu übernachten. So kam eine Packung von ca. 50 kg zusammen (inkl. Packsattel der Sattlerei Althaus, ausgestattet mit zwei Packsäcken von „The North Face“). Um Druckstellen vorzubeugen, unterlegten wir das Ganze mit einem grossen, sehr dicken Filzpad. Nun konnte das Training beginnen: Schwere Bündel Brennholz wurden transportiert, daneben Verladeübungen und immer längere Transporte im Anhänger. Dieser diente auch als Fressstand, sodass Djamila auch selbständig „Einsteigen“ üben konnte, was sie genoss. Während dieser Zeit waren wir oft froh, aufgetretene Probleme noch zu Hause beheben zu können. All diese Vorbereitungen waren zwar aufwändig, wurden uns aber durch eine erholsame und genussvolle Reise entschädigt.
Sonntag, den 24. September
Heute ist „Muli-Märt“ im Ballenberg. Wieder werden sie wach, die Erinnerungen. Hier, vor genau einem Jahr, war unsere Djamila am Seil zum Verkauf angebunden gewesen...!
Es bleibt in diesem Jahr leider nicht viel Zeit, um Freunde zu begrüssen, denn heute Abend soll alles bereit sein. Zuerst müssen unsere 4 Esel an ihren Ferienplatz bei Brigitta und Mäge in Meiringen gebracht werden. Wie wird Djamila reagieren, plötzlich alleine? Sie überrascht uns alle: Ruhig bleibt sie bei ihrem Heunetz, kommt nicht einmal aus dem Stall.
Montag, den 25. September
Morgens um 5.30 Uhr Tagwache. Djamila blinzelt verschlafen in unsere Stirnlampen. Der in der Dunkelheit etwas anders aussehende Transporter verwirrt sie zuerst ein bisschen, doch um 6.00 Uhr rollen wir ruhig zum Tor hinaus.
Unser erstes Ziel ist der Autobahnzoll in Genf. Ich bin etwas unruhig. Irgendwie verpasse ich den Schweizer-Zoll, die freundliche französische Zöllnerin schickt uns zurück. Doch im Gewirr der orange-weissen Absperrhütchen ist das Wenden mit Anhänger etwas schwierig. Jedenfalls möchte die immer noch sehr freundliche Zöllnerin das orange-weisse Ding unter dem Anhänger wieder zurückhaben. Beim Schweizer-Zoll ist gerade Kaffee-Pause, auch hier sind alle sehr freundlich. Was denn ein Maultier sei, werde ich gefragt. Aha, ein Esel; kein Problem! Sehen möchten sie ihn aber nicht. Nur das Carnet ATA wollen sie ausfüllen. Dann zurück zur französischen Zöllnerin. Diese weiss genau, dass ihre schweizerischen Kollegen immer vergessen, das Datum einzutragen und beschränkt sich darauf, dies nachzuholen.
Nun sind wir in Frankreich. Es dauert aber noch etliche ermüdliche Stunden, bis wir in Langogne, dem heutigen Ziel, unser Gefährt zum Stehen bringen. Wir übernachten in einem kleinen Hotel am Ufer des Naussac-Stausees. Weit und breit keine Menschenseele. Hier dürfen wir auch unser Auto lassen für 1 Euro pro Tag. Djamila blickt sich etwas steif, aber doch neugierig um. Wir bringen sie auf die vorgesehene Eselweide hinter dem Hotel. Etwas lustlos stöbert sie im dürren Gestrüpp und riecht an den überall vorhandenen Pferdeäpfeln. Da entdeckt sie die Nachbarspferde. Jetzt ist es um ihre und unsere Ruhe geschehen. Die ganze Nacht über stösst sie ihre inbrünstigen Sehnsuchtsschreie aus und jagt mit wilden Bocksprüngen in ihrem Gehege umher.
Dienstag, den 26. September
Etwas schwierig wird es auch am nächsten Morgen: Djamila würde viel lieber auf die riesige Koppel ihrer neuen Pferdefreunde, als dieses dumme Gepäck aufzuladen. So fliegt zuerst alles in hohem Bogen davon. Will sie denn nicht mitkommen? Nun, unsere Reise beginnt dann doch, obwohl Djamila auf den ersten 5 Kilometern mindestens 5 Pferde und 2 Esel entdeckt, bei denen sie unbedingt ihre Ferien verbringen will. So sinken wir gegen Mittag ziemlich erschöpft ins Gras. Doch ohne Bewegung kriecht schon bald die Kälte in unsere Glieder. Wir befinden uns auf einem Hochplateau, 1200 m. ü. M. Es bleibt uns nichts anderes, als weiterzuziehen. Die Wälder werden immer wilder und der Boden immer sumpfiger. Djamila scheint ihr Schicksal akzeptiert zu haben und folgt uns brav. Im Weiler Cheylard l’Evêque hoffen wir in der Gîte übernachten zu können, da ein kalter Wind aufkommt. Doch alles ist verriegelt. „Fermé éxcéptionalement“. Ein Schild, das uns noch mehrmals begegnen wird. Wir müssen noch einen Hügel überqueren, bis wir am Ufer eines Flusses einen windgeschützten Viehunterstand finden, inmitten einer riesigen Weide. Wir stellen unser Zelt auf den Mist in den Unterstand, kochen ein Risotto mit frischen Birkenpilzen, die hier überall aus dem Boden schiessen. Djamila weidet zufrieden auf der grossen Weide, welche auf einer Seite durch den Fluss, auf der anderen durch einen stabilen Zaun abgegrenzt ist. Plötzlich entdeckt Franziska Djamila auf der anderen Seite des Flusses stehend: Nass bis zum Kopf, aber glücklich, die weite Welt (vor allem die Nachbarskühe) auf eigene Faust zu erkunden. Wir lernen zwei Dinge: 1. Jeden Abend Elektrozaun aufbauen ist weniger anstrengend, als Muli einzufangen. 2. Djamila kann ohne Probleme Wasser durchqueren.
Mittwoch, den 27. September
Der Morgen erwacht mit Nebelschwaden, Djamila wartet bereits auf ihre 125 Gramm gequetschten Hafer und verzehrt auch gleich den Rest unseres warmen Haferbreis. Rasch ist alles zusammengeräumt, verpackt und aufgeladen. Djamila ist total brav. Wir achten auf genaueste Gewichtsverteilung: Beide Packsäcke werden mit einer Federwaage abgewogen. Unser Mut steigt wieder beträchtlich und schon bald wärmen uns die ersten Sonnenstrahlen. Wir kommen an einem paradiesischen, kleinen See vorbei. Hier wäre das Übernachten ein Traum gewesen! Schon bald steigen wir ab zum Schloss von Luc, auf dessen Ruine heute eine grosse Madonna steht. Weiter geht’s im Talboden bis Laveyrune. Der Weg führt überall durch von Wildschweinen umgepflügte Felder. Zu Gesicht bekommen wir aber keine. Kurz vor der Mittagsrast begegnen wir einem Pony-Hengst, mit dem Djamila sofort die Theorie über die Unfruchtbarkeit der Maultiere überprüfen will. Dies hat zur Folge, dass ich die zwei folgenden Stunden Pause mit Aufpassen verbringe. Denn der Elektrozaun beeindruckt Djamila im Moment nicht. Dazu kommt noch, dass es kaum Gras hat, alles ist von den Schafen kahlgefressen. Mit schon fast keinen Essensvorräten mehr machen wir uns wieder auf in Richtung La Bastide Puylaurent. Dort soll es einen Laden geben. Wir freuen uns. Zuvor gelingt uns eine Überquerung einer Weide voller neugieriger Schafe recht gut, ebenso die anschliessende Flussdurchquerung. Allerdings kommen uns die Wegmarkierungen etwas seltsam vor. Durstig erreichen wir eine wunderschöne Hochebene. „La Mourade“ steht auf einem Schild. Oh nein! Wir haben das Dorf verpasst! Zwar sind wir jetzt bereits eine halbe Tagesetappe weiter, unser Essensrucksack ist aber noch immer fast leer. Tja, nichts zu machen! Wir ziehen also weiter und finden bald eine kleine Wasserquelle mit einer schönen Wiese daneben: Ein idealer Zeltplatz. Mit zwei grossen Parasol-Pilzen, die wir gefunden haben, können wir schliesslich auch unsere Mägen füllen. Leider galoppiert Djamila plötzlich davon, in der Meinung, irgendwo Pferde zu finden. Als sie jedoch nur Kühe antrifft, kommt sie dann doch wieder mit uns zurück. Ein unkomplizierter Bauer, der vorbeikommt, um seine riesigen Viehbestände zu kontrollieren, bietet uns an, Djamila über Nacht in seinem Rinderkorral unterzubringen. Für uns eine ideale Lösung.
Donnerstag, den 28. September
Ein strahlender Morgen, Ovomaltine mit dem letzten Milchpulver, wir brechen unser Zelt wieder ab. Nun geht es bergab Richtung Chasseradès. Welch schöne Überraschung: Ein offenes Restaurant! Da es sowieso bald Mittag ist, binden wir Djamila auf einer saftigen Wiese an einen Pfahl und treten voller Vorfreude ins Restaurant ein. Wir studieren gerade die Menukarte, als Djamila sich plötzlich wie wild gebärdet, schlägt, steigt und sich auf den Boden wirft! Kolik? Sofort bin ich bei ihr: Wespen! Djamila ist voller Wespen! Ich will ihr helfen, versuche sie loszubinden, werde auch gestochen, wir beide laufen weg. In Panik galoppiert Djamila auf das Teersträsschen, rutscht, fällt und wird 15m über den heissen Teer geschleudert. Erschrocken sehe ich, wie Spuren aus Fleisch, Fell und Blut auf der Strasse immer länger werden. Es ist schrecklich! Sie tut mir so leid! Schliesslich schafft sie es, aufzustehen und rast davon, ich per Autostop hinter ihr nach. Als ich sie nach etwa 1.5 km einhole, ist sie völlig verängstigt, jede Heuschrecke versetzt sie erneut in Panik. Aber es gelingt mir, sie einzufangen, und nach fünf Minuten wird sie ruhiger. Sie ist froh, wieder bei uns zu sein. Aber was ist mit all diesen Wunden und den vielen Stichen? Natürlich habe ich Medikamente mitgenommen, doch kann sie noch Gepäck tragen? Wir sind ratlos. Hinter dem Restaurant finden wir eine kleine Weide, die uns Gelegenheit gibt, Djamila genauer zu untersuchen. Wespenstiche scheinen in der Sattellage keine zu sein. Die offenen Wunden sind zwar tief, bluten aber nicht stark.
Wir versuchen, endlich etwas zu essen. Danach, ruhiger, bepacken wir Djamila vorsichtig. Ohne Anzeichen von Schmerz beginnt sie schliesslich, mit uns weiterzutrotten. Immer wieder begutachten wir ängstlich ihre Wunden und sprayen Fliegenabwehrmittel darum. Plötzlich: „Achtung Schlange!“ Ich bin mit Djamila vorbeigegangen, ohne sie zu bemerken. Erst Franziska hinter mir hat sie entdeckt. Die Augen der Schlange sind geschlitzt: giftig! Schon wieder zittrige Knie...! Auf der nächsten Wiese stellen wir den Elektrozaun auf. Wir haben eine Pause nötig. Zwei französische Wanderer überholen uns. Sie haben schon seit Tagen unsere Spuren verfolgt und freuen sich, uns nun zu sehen. Es gäbe eine Herberge im nächsten Weiler, berichten sie. So machen auch wir uns wieder auf den Weg. Als die Sonne gerade rot glühend hinter dem Horizont verschwindet, erreichen wir die „Gîte les Alpiers“. Der herzlichen Herbergsmutter tut es furchtbar leid, dass sie kein freies Zimmer mehr hat. Dafür dürfen wir im nahen Wald unser Zelt aufschlagen, ihre Dusche benutzen und um 19.30 Uhr gibt es Nachtessen mit Muscheln. So kriechen wir spätabends, versöhnt mit dem Schicksal, in unsere warmen Schlafsäcke.
Freitag, den 29. September
In dichtem Nebel brechen wir noch etwas klamm unser Waldlager ab, füttern Djamila mit Buchenblättern, wägen noch sorgfältiger als gewöhnlich die Packsäcke ab und beladen Djamila. Bald erreichen wir „le Bleymard“. Welch Glück: Ein Supermarkt! Djamila erhält einen grossen Bund Karotten und unsere Vorratssäcke werden wieder prall gefüllt.
Der Weg schlängelt sich nun durch uralte Gässchen den Hang empor, verlässt das Städtchen, führt über sanfte Ackerfelder und wird zusehends steiniger. Die Sonne verdrängt allmählich den Nebel und schon bald sind wir froh um jedes kühle Lüftchen. Vor uns der höchste Punkt der Reise: der Mont Lozère, 1700 m. ü. M.. Unendlich scheinende karge Hochebenen. Ein erhitzter Hirsch wechselt direkt vor uns über die weite Steinsteppe. Djamila würde natürlich am liebsten hinterher jagen. Wir folgen den schlanken Granitsäulen, die hier schon seit Jahrhunderten als Wegmarkierung dienen. Und dann schon wieder ein Hirsch! Der Fotoapparat ist leider erst einsatzbereit, als der Hirsch nur noch als kleiner Punkt am Horizont zu erkennen ist. Der Abstieg vom Mont Lozère in Richtung Süden ist abschnittweise sehr steil und schwierig, mehr Bachbett als Weg. Djamila platziert vorsichtig ihre Hufe, belastet langsam, denn das lose Geröll rollt unter ihrem Gewicht ständig weg. Wir sind froh um das Hintergeschirr, die Packung hält felsenfest. In Finiels, ein paar in der wilden Steinlandschaft verirrten Häuschen, füllt uns ein alter Bergbauer die leeren Feldflaschen mit selbstgepresstem Most. Stolz zeigt er uns den seit langem verstaubten Pferdestall. Kaum sind wir wieder zum Dorf hinaus, ein Schild: Vorsicht freilaufende Rindviecher! Als wäre dies nicht schon genug, verwandelt sich auch der Weg wieder in einen Sturzbach von Felsblöcken und verborgenen Wurzeln. Als wir unten in der tiefen Schlucht ankommen, durchströmt uns ein Gefühl der Dankbarkeit: Djamila hat alles so gut gemacht! Plötzlich entdecken wir einen idealen Zeltplatz: Saftiges Gras, daneben ein Bach, ein flaches Plätzchen für das Zelt. Kurze Zeit später erfüllt ein Suppenduft die Luft...
Samstag, den 30. September
Djamila begrüsst uns am Morgen erwartungsvoll: sie will ihre Haferration und geniesst die anschliessende Morgentoilette. Vorsichtig werden ihre Wunden gesalbt und ringsum wieder mit Fliegenmittel eingesprüht. Im Nieselregen erreichen wir Pont du Montvert, ein kleines Steinstädtchen zwischen Flüssen und Felsen. Kaum Platz, um unser Muli irgendwo anzubinden. Viel gibt es hier nicht. Eine Bäckerei, eine Metzgerei, Samstagmorgen-Einkauf-Hektik und viel zu viele Autos. Versteckt zwischen zwei Steinhäuschen steigt nun der Weg steil an. Innert Kürze können wir von oben auf die Dächer hinunterschauen. Nun sehen wir auch die drei berühmten Brücken dieses Städtchens. Bald kommt dichter Nebel auf. Wir sind froh, ist der alte Maultierpfad so gut erhalten, so können wir den Weg nicht verfehlen. Überrascht erreichen wir eine Hochebene, beissender Wind jagt Nebelschwaden über die weiten Kuhweiden. Erste Tropfen fallen. Ein Blick auf die Wanderkarte lässt uns erschauern: Stundenlang auf einem Gratweg dem ganzen Bergrücken entlang. Dazu sollten wir auch noch durch eine Weide mit freilaufenden Pferden. Und das bei diesem Wetter! So ändern wir spontan unsere Route und wählen ein kleines Strässchen im Wald. Zwar ohne Aussicht, dafür aber vor Wind und Wetter geschützt. Stundenlang zieht sich der Weg dahin, überall parkierte Autos der Pilzsammler. Gleichmässig tönen die Hufe von Djamila auf dem Asphalt. Wieder einmal ein Kontrollblick nach hinten: Die Ärmste, wie lange trägt sie das Gepäck wohl schon am Bauch hängend? Es gibt eine kurze Zwangspause: Neu packen. Bald schon sehen wir den ersten Marroni-Baum auf unserer Reise. Da holen uns wieder die zwei französischen Wanderer ein, die eigentlich weit vor uns hätten sein sollen, sie sind in Eile, denn sie hatten sich verlaufen und haben in Florac ein Hotelzimmer reserviert. Wir dagegen beenden unsere Tagesetappe schon bald in einem Kastanienhain. Kaum haben wir den Weidezaun und das Zelt aufgestellt, besucht uns ein französisches Ehepaar. Sie sind die Besitzer dieses Platzes und freuen sich sehr über uns. Das kleine Steinhäuschen habe früher zum Trocknen der Kastanien gedient, nun stehe es leider leer. Bevor sie wieder gehen, warnen sie uns noch vor dem aggressiven Bienenvolk, das in einem der hohlen Baumstämme wohnt. So geniessen wir den Abend, sättigen uns an frisch gebratenen Marroni und kriechen bei einbrechender Dunkelheit in unser Zelt. Kurz darauf ertönt in den Baumwipfeln direkt über unserem Zelt der Ruf eines Käuzchens, das zur Jagd aufbricht. Dann ist es ruhig, bis in der Morgendämmerung das Käuzchen wieder zu seinem Schlafplatz zurückkehrt.
Sonntag, den 1. Oktober
Heute ist Sonntag, wir wollen nach Florac, der Hauptstadt der Cevennen, uns einen schönen Tag machen, quasi eine Ruhepause. Das Wetter ist wieder besser, dasFlusstal atemberaubend schön und die ersten wilden Feigen versüssen uns den Morgen. Der Campingplatz in Florac ist geschlossen, der kleine Einkaufsladen ist zum Glück aber geöffnet. Leider finden wir keinen geeigneten Platz zum Übernachten und ziehen zur Stadt hinaus, überqueren eine filigran geschwungene Steinbrücke und entdecken ein hölzernes Schild: Gîte d’Etape, Ferme biologique à 3 km. Dies bedeutet eine Stunde laufen, und zwar bergauf und alles entgegen unserer Reiseroute. Was, wenn sie gar nicht geöffnet hat? Eine vorbeifahrende Automobilistin kann uns darauf zwar keine Antwort geben, sagt aber, dass der zuständige Bauer das ganze Jahr dort lebe. So wandern wir hoffnungsvoll bergauf. Der Weg ist übersät mit Kastanien, frisch glänzenden neben zerdrückten. Nach einer Stunde entdecken wir dicke Schweine, die gemütlich ihre Suppe aus einem alten Boot schlürfen. Dann springt ein freundlicher Hund an uns hoch, ein zweiter winselt an einer Kette. Nun stehen wir etwas scheu vor dem alten Gehöft, das vollständig aus Stein in den Fels gebaut ist. Franziska wagt sich in einen dunklen Eingang hinein und verschwindet. Zehn Minuten später hat Djamila eine riesige Weide bekommen und wir stehen in einem Zimmer, das uns an den Ballenberg erinnert, uralt, mit zwei hohen Betten, knorrigem Holzfussboden. Im Keller befindet sich eine Dusche, direkt in den Fels gehauen. Euphorisch waschen wir sofort alle schmutzige Wäsche, doch leider beginnt es zu regnen. So tragen wir in den nächsten Tagen auch noch nasse Wäsche mit uns herum. Danach haben wir noch genug Zeit, um Haus und Hof zu besichtigen. Die alten Ställe sind im ursprünglichen Zustand belassen und mit alten Geräten ausgestattet. Im neuen grossen Ziegenstall sind viele hustende Gizi eingesperrt: Bestimmt haben sie Lungenwürmer. Um 20.00 Uhr werden wir zum Nachtessen in eine grosse Steinhalle gerufen. Auf der einen Seite thront ein riesiges Cheminée, ganze Schweine werden hier gebraten. Auf einem grossen Holztisch stehen selbstgemachte Köstlichkeiten, Kastanienblütensirup und Holunderblütensekt. Nach vielen Gängen und einem interessanten Gespräch legen wir uns müde und zufrieden in unsere Grossmutterbetten und träumen von vergangenen Tagen in alten Häusern, als man noch mit dem Maultier reiste...
Montag, den 2. Oktober
Ziegenmilchbutter mit Feigenkonfitüre, ein interessantes Morgenessen erwartet uns heute. Djamila freut sich auch und kommt uns auf der riesigen Wiese entgegengerannt. Inzwischen sitzen alle Handgriffe beim Bepacken der geduldigen Djamila, so dass wir innert 10 Minuten startbereit sind. (Das vorherige Verpacken des Materials in die Packsäcke braucht meist mehr Zeit!) Bei idealem Wanderwetter benutzen wir eine mit dem Bagger neu angelegte Strasse zur Nachbarsalp und von da an geht’s talwärts. So verlieren wir kaum Zeit und erreichen unsere Wanderroute etwas südlicher wieder. Heute soll der Weg durch den Nationalpark verlaufen, wir sind gespannt. Zuerst wandern wir stundenlang durch ein wildes Flusstal, auf einem gemütlichen Weg, mit vielen Viadukten und dunklen Tunnels: eine alte, stillgelegt Eisenbahnlinie. Bis am Mittag sind wir schon ziemlich weit vorangekommen. Franziska hat nasse Schuhe, ihre Füsse schmerzen. Zwei Stunden Pause tun gut, Proviant haben wir auch noch genug. Kurz vor Cassagnas steigt der Weg wieder an, hinauf zum Col de la Pierre Plant, Doch Djamila will plötzlich nicht mehr, ich muss sie fast zu jedem Schritt zwingen. Warum widersetzt sie sich? 10 Minuten lang kommen wir kaum vorwärts. Plötzlich hören wir es auch: Drei röhrende Hirsche, und wir mittendrin! Den einen hören wir sehr laut, er muss ganz nahe sein. Uns läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Zum Glück macht der Weg eine Kurve von den Hirschen weg, Djamila wird ganz schnell, nur weg von hier. Einmal vorbei, läuft sie wieder stundenlang im gewohnten Tempo. Leider ist die Passhöhe in dichten Nebel gehüllt, den Menhir (Pierre plantée) finden wir dennoch. Zum Glück wachsen hier in Wald überall wilde Apfelbäume, so kommen wir immer wieder in Genuss frischer Äpfel. Auf einer Forststrasse steigen wir wieder ab Richtung „Saint Germain de Calberte“. Hier soll es eine „Gîte équestre“ geben: Ein riesiges Feriendorf, gespenstisch leer. In einem Paddock kauen drei edle Pferde an einem frischen Heuhaufen. Nirgends ist einen Menschenseele zu sehen. Alles ist verriegelt und verlassen. Wer aber hat die Pferde gefüttert? Niedergeschlagen wollen wir weiterziehen, da steigen zwei Männer aus einem Auto und bringen Kisten in eines der verschlossenen Häuser. Sie hören sich unsere Geschichte an. Dann ein lauter Seufzer: „Mein Gott, warum schickst du die Leute immer an meinem einzigen freien Tag?“ Dann gibt er uns folgende Anweisung: Der Stall sei offen, alle Boxen leer, Heu und Stroh vorhanden. Er führe hier nur das heute geschlossene Hotel, alles andere sei über den Winter geschlossen. So kommt es, dass wir mit frischem Stroh eine Box für Djamila und daneben eine für uns einstreuen. Für Djamila gibt es dazu einen Arm voll duftendes französisches Heu und ein wenig Kraftfutter. Schon bald trommelt der Regen aufs Dach, genau das richtige Wetter für eine dicke Erdkröte, die durchs grosse Stalltor in die dunkle Nacht hinauskriecht. Wir erwärmen uns mit heisser Suppe und frischen Marroni. Wie ist es doch schön, in unsere Schlafsäcke zu kriechen, das weiche Strohbett, das zufriedene Kauen von Djamila. Die Hündin Ronja schnarcht bereits zufrieden, halb vergraben in ihrem Strohbett.
Dienstag, den 3. Oktober
Bange werfen wir den ersten Blick in den grauen Morgen: Alles glänzt und tropft. Ohne Morgenessen räumen wir unser Nachtlager wieder auf und packen alles auf Djamila. Zuletzt spannen wir eine grosse Plastikplane darüber. Die ersten Schritte im Regen, ein starker Windstoss fährt unter Djamilas Gepäck, laut knatternd bläst sich die Plastikplane zu einem blauen Ungeheuer aus. Djamila kümmert’s kaum, sie will einfach nur weiter. Eine kurze Pause in einem Café: Ja, es bleibt wahrscheinlich die ganze Woche schlechtes Wetter. Das Brot wird uns in einer Bäckerei extra gut in Plastik verpackt, so ziehen wir weiter, der Regen lässt bald etwas nach und der Weg ist gut, geht vorbei an wunderschönen terrassierten ehemaligen Gärten und versteckten Gehöften. Wie wir später erfahren, war das Gebiet um St. Germain ein Überlebens- und Zufluchtsort für Juden während des zweiten Weltkriegs. Langsam geht’s zum Gardon-Fluss hinunter. Da wird es plötzlich dunkel, ein Wolkenbruch ergiesst sich über uns. Djamila sieht aus wie der sprichwörtlich begossene Pudel und uns geht es nicht viel besser. Unsere Füsse schwimmen in den Wanderschuhen. Orkanartige Böen brechen grosse Äste von den Bäumen. So suchen wir im nächsten Dorf, St. Etienne, verzweifelt eine Unterkunft, obwohl erst Mittag ist. Dreimal durchlaufen wir das ganze Dorf, viele Hinweise aus der Bevölkerung, aber entweder ist alles belegt oder sowieso nicht geöffnet. Ziemlich mutlos bestellen wir in einem Restaurant einen Salatteller. Einkaufsmöglichkeiten gibt es keine. Da brechen die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke und mit ihnen kehrt auch unsere Wanderlust zurück. Jetzt erst recht. Wir vergessen unsere aufgeweichten Füsse und beginnen den Aufstieg zum Col de St. Pierre. Der Weg führt über den in Fels gehauenen alten Säumerweg, der noch triefend nass in der Sonne glänzt. Abschnittweise liegen Kastanien auf dem Weg, das Werk des morgendlichen Sturmes. Leider wurde zu Gunsten der neuen Autostrasse, welche wir auf der Passhöhe erreichen, der alte Saumpfad zerstört. Stirnrunzeln über den Ersatz, der geschaffen wurde: Der Wegweiser zeigt einen schmalen, fast senkrecht abfallenden Felskännel hinunter. Djamila braucht etliche Anläufe, bis sie sich endlich hinunterwagt. Die Belohnung aus dem Rucksack bleibt nicht aus. Wir freuen uns, wie sorgfältig sie über riesige Felsstufen hinunterklettert. So hätten wir uns unsere Reise nie vorzustellen gewagt. Trotz des guten Gelingens sind wir alle froh, als wir wieder den alten, mit Steinmäuerchen gesäumten Saumpfad erreichen. Beschwingt geht es weiter bis zu einem zauberhaften Rastplätzchen: Ein altes Steinhäuschen, saftiges Gras, ein Wasserspeicher voller Forellen, doch leider: Proprieté privé. Das Verbot missachtend gönnen wir uns doch eine Pause und widmen uns den geschundenen Füssen. Es ist das erste Mal, dass wir uns nicht sofort um Djamila kümmern, und schon wälzt sie sich samt Gepäck am Boden. Lange wird unsere Pause nicht, wollen wir doch noch bis St. Jean du Gard. Schon bald erreichen wir die ersten Häuschen am Ufer des Gardon. Doch bis ins Stadtzentrum ist der Weg noch weit. Am Rande der Hauptstrasse trottend, lassen wir die Autos vorbeirasen, überqueren eine alte Steinbrücke, gewähren zwei Feuerwehrautos mit Sirene den Vortritt. Djamila bleibt total ruhig. So erreichen wir endlich unser Hotel, mitten im Zentrum. Der Hoteldirektor freut sich über unsere Ankunft. Franziska bezieht mit Ronja und dem Gepäck unser Zimmer. Dies täte auch meinen wunden Füssen gut. Aber Djamila steht draussen am grossen Eisentor angebunden zwischen Ratshaus und Einkaufszentrum. Der Hoteldirektor will uns persönlich zu seinem Freund begleiten, dort habe es viel Platz für Djamila. So trottet bald eine seltsame Karawane durch die Strassen zur Stadt hinaus. Zuvorderst der edle Hoteldirektor mit frisch polierten Lackschuhen und in einem feinen Anzug, dicht dahinter versuche ich humpelnd schrittzuhalten. Am letzten Ende des langen Führseils schlendert Djamila hintendrein. Am Ziel angelangt, entpuppt sich der Freund des Hoteldirektors als Ziegenbauer. Lange wird begrüsst und beraten, wo es unser Maultier wohl am besten hätte. Aus dem Gespräch entnehme ich, dass sich beide fürchten, Djamila in Hörweite anderer Esel unterzubringen, da sei keine Einzäunung stark genug. So machen wir uns nochmals auf den Weg zu einer entfernten Weide. Zuvorderst immer noch der gut gelaunte Direktor. Schlussendlich bekommt Djamila einen alten Schafstall mit einer an Ketten aufgehängten Futterraufe, bis oben voll mit gutem Heu. Djamila gefällt es gar nicht, so allein, sie will mit mir zurück. Immer wieder tauchen ihre geweiteten Nüstern über der Bretterwand auf. Ihr heiseres Wiehern zerreist mir fast das Herz. So lange waren wir nun zusammen. Der Hoteldirektor bestellt seine Cousine mit dem Auto, sonst hätte ich den Rückweg wohl nicht mehr geschafft. Zu müde um noch auszugehen, verschlingen wir in unserem Zimmer eine Pizza „à la bergère“, mit frischem Schafkäse.
Mittwoch, den 4. Oktober
Nach einem ausgiebigen Frühstück zieht es uns sofort zu Djamila. Wir dürfen sie über Tag auf die riesige Weide lassen. Mit Freude entdeckt sie drei Esel auf einer direkt angrenzenden Weide. Von deren Existenz wusste der Ziegenbauer wohl nichts! Doch entgegen seiner Befürchtungen geht alles gut. So verbringen wir den sonnigen Vormittag bei Djamila und am Ufer des angrenzenden Flusses Gardon, beobachten Eisvögel und Seidenreiher, während wir wilde Feigen und Trauben essen: Südfrankreich pur. Am Mittag reise ich mit Bus und Zug über Alès zurück nach Langogne, suche dort unser Auto und fahre zurück. Franziska und Ronja wollten eigentlich auch mitkommen, doch ohne Maulkorb darf Ronja nicht in den Bus einsteigen.
Donnerstag, den 5. Oktober
Heute gönnen wir uns allen einen Ferientag. Mit Djamila im Anhänger reisen wir ein paar Kilometer zurück, dorthin, wo wir so feine Kastanien gesehen haben. Djamila geniesst die frischen Kräuter und beobachtet interessiert unsere emsige Kastaniensammlerei. Wir können sie frei mitlaufen lassen, so sehr hat sie sich an uns gewöhnt. Am Abend ist das Hotelrestaurant geöffnet und wir geniessen ein typisch französisches Dîner in mehreren Gängen, während wir die ausgetretenen Wanderschuhe unter dem Tisch etwas zu verstecken versuchen.
Freitag, den 6. Oktober
Um sechs Uhr Morgens verladen wir Djamila in den Anhänger. Ob sie sich freut, wieder heimzukehren? Es soll 12 Stunden dauern, bis sie zu Hause wieder aus ihrem Transportvehikel steigen kann. Die Reise verläuft ohne Zwischenfälle, ebenso die Zollabfertigung. Wieder wollen die Zöllner nur das Carnet ATA sehen. Diesmal fragen sie allerdings noch nach der Autonummer. Djamila geniesst es, bei allen Zwischenhalten etwas Gutes zugesteckt zu bekommen, Karotten, Äpfel oder Belohnungswürfel. Ihr Heunetz ist auch immer gut gefüllt. Sehr enttäuscht ist sie jedoch, dass zuhause der Stall leer ist...!
Samstag, den 7. Oktober
Wir stehen früh auf, wir müssen heute unsere Esel zurückholen. Zuerst den Anhänger reinigen. Also, Klappe runter und Eimer holen. Da will Djamila schon einsteigen. „Nein, heute darfst du nicht mit!“ Wir freuen uns aber, zu sehen, dass sie nach der langen Fahrt die Freude am Reisen nicht verloren hat. Lara, Momo, Caesar und Sina treffen wir pudelwohl an ihrem Ferienplatz. Die Rückkehr verläuft problemlos, Djamila freut sich riesig übers Wiedersehen. Ob wir auf die nächste Reise nicht doch ihre ganze Herde mitnehmen könnten...?
Monat Jahr, Bruno Lötscher